Die Stimme der Vernunft 2
I

Geralt.«

Aus dem Schlaf gerissen, warf er den Kopf herum. Die Sonne stand schon hoch, trieb blendend goldene Flecken durchs Laubwerk der Fensteröffnungen, durchdrang die Hütte mit Lichtfühlern. Der Hexer schirmte die Augen mit der Hand ab – eine unnötige, instinktive Geste, die er nie ablegen konnte: Es genügte ja, die Pupillen zu winzigen Pünktchen zu verengen.

»Es ist spät«, sagte Nenneke und öffnete das Fenster. »Ihr habt verschlafen. Iola, verschwinde. Du bist gar nicht mehr hier.«

Das Mädchen fuhr hoch, beugte sich aus dem Bett und nahm den Umhang vom Boden. Auf der Schulter, an der Stelle, wo eben noch ihre Lippen gewesen waren, spürte Geralt ein Fleckchen gerinnender Spucke.

»Warte . . .«, sagte er unsicher. Sie sah ihn an, wandte rasch den Kopf ab.

Sie hatte sich verändert. An ihr war nichts mehr von der Nixe, nichts von der leuchtenden, nach Kamille duftenden Erscheinung, die sie im Morgengrauen gewesen war. Ihre Augen waren blau, nicht schwarz. Und sie hatte Sommersprossen – auf der Nase, über der Brust, auf den Schultern. Es waren durchaus hübsche Sommersprossen, sie passten zu ihrem Teint und den rotblonden Haaren. Doch er hatte sie zuvor nicht gesehen, im Morgengrauen, als sie sein Traum gewesen war. Mit Scham und Verdruss stellte er fest, dass das, was er für sie empfand, Bedauern war, Bedauern, dass sie nicht sein Traumbild geblieben war. Und dass er sich dieses Bedauern niemals verzeihen würde.

»Warte«, wiederholte er. »Iola ... Ich wollte . . .«

»Sag nichts zu ihr, Geralt«, sagte Nenneke. »Sie wird dir sowieso nicht antworten. Verschwinde, Iola. Beeil dich, Kind.«

In den Umhang gehüllt, tappte das Mädchen mit bloßen Füßen zur Tür, bedrückt, errötet, unansehnlich. Nichts an ihr erinnerte mehr an ...

Yennefer.

»Nenneke«, sagte er und griff nach dem Hemd. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen ... Du wirst sie doch nicht bestrafen?«

»Dummerchen«, prustete die Priesterin und trat ans Bett. »Du hast vergessen, wo du bist. Das ist keine Einsiedelei und kein Kloster. Es ist das Heiligtum der Melitele. Unsere Göttin verbietet den Priesterinnen ... nichts. Fast nichts.«

»Du hast mir verboten, mit ihr zu reden.«

»Ich habe es nicht verboten, sondern dich auf die Zwecklosigkeit hingewiesen. Iola schweigt.«

»Was?«

»Sie schweigt, weil sie so ein Gelübde abgelegt hat. Das ist eine Art der Entsagung, durch die ... Ach, was soll ich es dir erklären, du verstehst es ja doch nicht, du wirst nicht einmal versuchen, es zu verstehen. Ich kenne deine Ansichten über Religion. Nein, zieh dich noch nicht an. Ich will nachsehen, wie dein Hals heilt.«

Sie setzte sich auf den Bettrand und wickelte geschickt die Leinenbinden ab, die den Hals des Hexers in einer dicken Schicht umschlangen. Vor Schmerz verzog er den Mund.

Sofort nach seiner Ankunft in Ellander hatte Nenneke die hässlich groben Nähte von Pechdraht, mit dem man ihn in Wyzima genäht hatte, entfernt, hatte die Wunde geöffnet und neu versorgt. Die Folgen waren offensichtlich – im Heiligtum war er fast gesund eingetroffen, vielleicht ein wenig steif. Jetzt hingegen war er wieder krank und hatte Schmerzen. Doch er widersetzte sich nicht. Er kannte die Priesterin schon jahrelang, er wusste, wie gewaltig ihre Heilkenntnisse waren und über welch eine reichhaltige und vielseitige Apotheke sie verfügte. Eine Behandlung im Heiligtum der Melitele konnte ihm nur zum Nutzen gereichen.

Nenneke rieb die Wundränder ein, reinigte sie und begann zu schimpfen. Er kannte es schon auswendig, sie hatte gleich am ersten Tag damit begonnen und vergaß nie, ihn aufzuziehen, wann immer sie das Andenken an die Krallen der Prinzessin aus Wyzima erblickte.

»So was Ungeheuerliches! Sich von einer gewöhnlichen Striege derart zerfleischen zu lassen! Muskeln, Sehnen, um ein Haar hätte es die Halsschlagader erwischt! Bei der Großen Melitele, Geralt, was ist mit dir los? Was ist geschehen, dass du sie so nahe herangelassen hast? Was wolltest du mit ihr machen? Sie bumsen?«

Er antwortete nicht, lächelte nur sacht.

»Grins nicht so dumm.« Die Priesterin stand auf, nahm von der Kommode eine Tasche mit Verbandszeug. Trotz ihrer Leibesfülle und der niedrigen Statur bewegte sie sich geschickt und anmutig. »An dem, was passiert ist, ist nichts komisch. Deine Reflexe lassen nach, Geralt.«

»Du übertreibst.«

»Ich übertreibe gar nicht.« Nenneke strich einen grünen Brei auf die Wunde, der durchdringenden Eukalyptusgeruch verströmte. »Du durftest dich nicht verwunden lassen, hast es aber getan, und das sehr schwer. Sogar verhängnisvoll. Sogar bei deinem unglaublichen Regenerationsvermögen wirst du mehrere Monate brauchen, bis der Hals wieder vollends beweglich ist. Ich warne dich, miss deine Kräfte in der Zeit nicht mit einem beweglichen Gegner.«

»Danke für die Warnung. Gib mir vielleicht noch einen Rat: Wovon soll ich in der Zeit leben? Ein paar Fräuleins zusammenrufen, einen Wagen kaufen und ein fahrendes Freudenhaus aufmachen?«

Nenneke zuckte mit den Achseln, während sie ihm mit raschen, sicheren Bewegungen den Hals verband. »Soll ich dir Ratschläge und Lebensweisheiten geben? Bin ich vielleicht deine Mutter? So, fertig. Du kannst dich anziehen. Im Refektorium erwartet dich ein Frühstück. Beeil dich, sonst wirst du selbst für dich kochen. Ich habe nicht vor, die Mädchen bis zum Mittag in der Küche zu lassen.«

»Wo finde ich dich später? Im Allerheiligsten?«

»Nein.« Nenneke stand auf. »Nicht im Allerheiligsten. Du bist hier ein gern gesehener Gast, Hexer, aber lauf mir nicht ins Allerheiligste nach. Geh essen. Wenn es an der Zeit ist, werde ich dich selbst finden.»

»Gut.«

Der letzte Wunsch
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